Philosophie
Meine Hinwendung zur Philosophie hat eine recht lange Geschichte, gleichsam privat chronologisch als auch objektiv historisch. Beides ist ontologisch. Die Entscheidung, Musik zu studieren traf ich nicht zuletzt, weil ich in einer kommunistischen Diktatur aufgewachsen bin. Der Kommunismus als Utopie war philosophisch, respektive eschatologisch; nur hat eine individuelle Weltanschauung darin offiziell keinen Platz finden dürfen. Kollisionen mit der äußerlichen Sphäre waren unvermeidlich. Die Kunst bot Freiräume, besonders die Musik. Die Fragen, weshalb ein Mensch komponiert oder aber wie die Zeit beschaffen war, in der eine Musik entstand, lassen sich letztlich auch der Philosophie zuordnen.
Der Kommunismus ist überwunden. Es ist geradezu eine Binsenweisheit, dass dadurch die Konflikte des Menschen mit seiner Außenwelt nicht entfallen. Schon, weil das Individuum mit einer Welt, in der alles nach pragmatischem Nutzen gemessen wird, kollidiert. Individuelle Sinngebung, obwohl sie allgegenwärtig zu sein scheint, ist auch hier nicht vorgesehen. Nützlichkeit ist Nutzen für andere. Das sah schon Karl Marx: investierte Zeit, die dem Individuum durch Sinngebung, die von außen aufgezwungen wird, genommen wird, könnte unwiederbringlich verloren sein. Zu einer vergleichbare Einschätzung gelangte auch Karl Jaspers: was dem Menschen abverlangt wird, ist unbedingte Leistungspflicht. Es ist eine Leistungspflicht, die oft in keiner Weise in einem Verhältnis zur Innenwelt des Menschen steht.
Kreative Reaktionen auf Vorgänge, die sich in der Außenwelt ereignen, sind ontologisch. Äußerliche Unfreiheit kann, als Handlung, Kunst zu schaffen, zu innerlicher Freiheit führen. Schon Immanuel Kant sah, dass Kunst eine Hervorbringung aus Freiheit ist. Gemeint kann damit auch sein, freie Kunst zu schaffen, die sich an keine Regeln mehr hält. Doch darin, fast schon im Hintergrund, ist auch ein ethischer Aspekt verborgen: wer sich Regeln, die einer gesicherten Tradition entspringen, gänzlich verweigert, entledigt sich der Geschichte. Karl R. Popper hat eindringlich gezeigt, wie unmoralisch es sein kann, dass für das Neue das Alte völlig getilgt wird. Gerade weil damit historisch gesicherte Wertmaßstäbe vollständig außer Kraft gesetzt werden können. Kann das manchmal unumgänglich sein? Ich habe meine Zweifel.
Wahrhaftigkeit ist Ehrlichkeit und genau darin hat Kunst etwas mit Philosophie gemeinsam: gerade dadurch, dass beides unfertig ist, dass beides eine Entwicklung durchlief und fortwährend durchläuft. Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah in der Klassischen Kunst Vollendung. Zumindest der äußerlichen Form nach. Was dieser Klassischen Kunst folgte, nannte er Überschreitung. Darin, in der romantischen Kunst, eingefasst sind gleich mehrere Kunstgattungen: die Poesie, die Malerei und die Musik.
Überschreitung hat aber auch noch einen anderen Sinn: der Schein! Hegel wollte ihn bewahren. Aggressiv pragmatischer Utilitarismus bringt uns bei, dass er, der Schein, gefälligst zu entfallen habe. Aber was kommt an dessen Stelle? Schein ist die Übertretung, vielmehr „Überschreitung“ auch einer Realität, die absolut finster sein kann. Diese Überschreitung war es, die Ernst Bloch zu seinem „Prinzip Hoffnung“ animierte: es ist gerade dieser Schein, Bloch nennt es „Vorscheinen“, der Visionen entstehen lässt, Impulse gleichsam, die zu zukünftigem Handeln aufrufen. So betrachtet ist Kunst ein Wissen. Für mich bedeutet das: eine Kunst, die unsere Seele berührt, spendet Wissen.
Als Komponist ist man hin und wieder in der Situation, für ein Programmheft einen Text liefern zu müssen. Ich mache das ungern, obwohl es eine gute Gelegenheit ist, den Hörer in eine Richtung zu lenken. Sind die Worte schlüssig, so ist damit die Frage nicht beantwortet, ob die Musik hergibt, was der Text verspricht. Kritisch wurde von verschiedenen Seiten eingewandt, dass Neue Kunst nie ohne Kommentar auskomme. Ich persönlich gewann den Eindruck, dass oft der Kommentar das wesentliche am Kunstwerk sein kann. Die sinnliche Seite der Kunst wurde verwissenschaftlicht, etwa indem mathematische Modelle durchgespielt wurden. Welchen Zweck erfüllt das: einen künstlerischen oder einen wissenschaftlichen? Sollte es ein wissenschaftlicher sein, ist es, streng genommen, obwohl auch die Mathematik eine Ästhetik haben kann, kein künstlerischer. Es ließe sich darüber streiten, ob diese Form von Kunst einer Nachahmung, eine strikte Mimesis, gegen deren reine Form Kant schon Zweifel anmeldete, entspricht.
Die Musik des 20. Jahrhunderts zeigt, dass die Sprache der Musik in sehr kurzen Intervallen extremen Veränderungen unterworfen war. Angenommen, es geschähe mit einer Sprache, mit der wir uns tagtäglich mitteilen: wie sollten wir miteinander reden, wenn die Worte, die wir gestern benutzten, heute schon wieder ungültig sind? Trotzdem das Argument, dass auch das einem Schein, nämlich in der Weise, dass wir immer wieder neue Worte gegen eine widrige Realität erfinden, entsprechen könnte, berechtigt ist, entgehen wir nicht der Frage, wofür diese Informationsinflation letztlich gut sein soll.
Theodor W. Adorno behauptete, dass in Neuer Musik, Realität erklinge. So, wie sie klingt, sieht sie auch aus, diese Welt: widerwärtig, ungerecht und unsozial. Helmut Lachenmann sprach davon, dass in der heutigen Gesellschaft wortreicher Sprachfertigkeit in gleichem Maße Sprachlosigkeit gegenüberstünde. Damit hat Lachenmanns zweifelsohne Recht. Doch ob Musik uns zur Umkehr bewegen kann, ist zumindest umstritten.
In der philosophischen Terminologie gibt es Fragen, die perennieren, die immerwährend sind. Es mag fast paradox wirken, dass mit perennis auch Grundwahrheiten gemeint sind. Dazu gehört auch der Glaube. Für die Moderne, die erfüllt war von der Intention, sämtliche Fragen mit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit beantworten zu können, war das unannehmbar. Selbst Kunst war davon nicht ausgenommen. Ich vermute, dass sich Musik dadurch erklärt, dass sie die Seele berührt. Was die Seele berührt, ist ontologisch in dem Sinne, dass wir uns selbst dadurch erfahren.
Bin ich schon auf die Frage, was mich zur Philosophie hinführte, eingegangen? Es ist Geschichte. Meine und die der Außenwelt. Fragen quollen daraus empor.
Thomas Kupsch